Malerei des Expressiven Realismus
Eine Bildkunst, die auf dem mannigfaltigen Formenvokabular der Klassischen
Moderne aufbaut, Farbe und Pinselduktus als wesentliches Ausdrucksmittel
einsetzt und den Gegenstand als Zeugen der künstlerischen Inspiration beibehält –
das ist Expressiver Realismus. Im Gegensatz zum Expressionismus haben nun die
Maler das Bemühen um „Stil“, ja um Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit
ausgeprägtem stilistischem Eigencharakter aufgegeben zugunsten einer
individuellen künstlerischen Aussage. So tritt anstelle avantgardistischen Stilwillens
und der daraus folgenden Überformung der Erscheinungswelt eine größere
Aufmerksamkeit den Dingen gegenüber, ein neuer Realismus. Doch geht die
Wertschätzung des Gegenstandes nicht so weit, dass hinter ihm der Maler
verschwindet und sich weder durch Kolorit noch durch Handschrift zu erkennen
gibt wie in der gleichzeitig aufblühenden Neuen Sachlichkeit. Expressiver Realismus
ist ein mittlerer Weg zwischen den beiden Extremen. Er beruht auf einer
Überzeugung, wie sie etwa Max Liebermann anlässlich der großen Wilhelm Leibl-
Ausstellung von 1929 in Berlin formuliert hatte: „Das Neue in der Kunst ist die neue
Persönlichkeit des Künstlers, der hinter dem Bilde steht. Wohl kann man Originelles
erfinden, aber das Originale wird mit uns geboren!“[1] Weil die damals jungen
Maler, von einer derartigen Einstellung beflügelt, ihr Werk schufen – wobei viele
zunächst an damals moderne Stile anschlossen, beim Kubismus oder der Neuen
Sachlichkeit – , galten sie in der Kunstgeschichte lange Zeit als „Einzelgänger“. Nun
aber, aus der zeitlichen Distanz, tritt bei aller Individualität der Handschriften, die
eine Subsummierung unter einem Ismus problematisch machte, die gemeinsame
Haltung dieser realistischen Maler des vergangenen Jahrhunderts immer deutlicher
hervor – nicht im stilistischen Detail, aber in der malerischen Grundhaltung
gegenüber der Erscheinungswelt und in einer ähnlichen Auffassung vom Wesen
der Bildkunst.
Diese Maler aber gerieten in die politischen Turbulenzen des 20. Jahrhunderts, sie
mussten nicht nur unter der nationalsozialistischen Diktatur, sondern weiterhin
nach 1950 im Abseits der öffentlichen Wahrnehmung ihr Werk schaffen: Im Westen
aufgrund der Bevorzugung der ungegenständlichen Malerei, im Osten wegen des
staatlich geforderten Sozialistischen Realismus. Eine Korrektur der bislang
lückenhaften Sichtweise auf das bildnerische Schaffen des 20. Jahrhunderts ist
deswegen nötig.
Dr. Ingrid von der Dollen
Freundeskreis Expressiver Realismus
[1] Max Liebermann, Vision der Wirklichkeit, hrsg. von Günter Busch, Frankfurt 1993, S. 174.
Künstler des Expressiven Realismus